Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich meinen fast erwachsenen Sohn frage:
„Hast deine Russisch-Hausübung schon erledigt?“
„Hast du schon das zweite Kapitel für deine vorwissenschaftliche Arbeit verfasst?“
Und mein Sohn antwortet dann verlässlich mit
„Nein, bin noch nicht dazugekommen, es war so viel anderes zu tun.“ oder
„Ich bin dran, aber noch nicht fertig.“
In solchen Momenten fühle ich mich nicht besonders wirksam, genauer gesagt, ich komme mir sogar recht blöd dabei vor.
Auch im Arbeitskontext höre ich ähnliche Schilderungen von Führungskräften, die ich begleite:
Seit wir Homeoffice haben, renne ich meinen Mitarbeitern den ganzen Tag hinterher: „Hast du dies schon fertig gestellt? Hast du das schon erledigt?“
Meistens dauern die Dinge länger, also muss ich später nochmal nachfragen. Das ist wirklich mühsam, und langsam fehlt mir echt die Lust dazu, und auch die Kraft.
Muss das so sein? Geht das nicht auch anders?
Ja. Meiner Erfahrung nach schon.
Wenn ich damit aufhöre, meinem Sohn hinterherzulaufen und ihm statt dessen ermögliche, selbst Verantwortung zu übernehmen, dann ist nicht nur unser Mutter-Sohn-Verhältnis netter, sondern auch die Aufgaben erledigen sich rascher und müheloser. Ich muss zugeben, das erstaunt mich jedes Mal auf’s Neue.
Führungskräfte erzählen mir, dass sie plötzlich Zeit haben für wirklich Wichtiges, wenn es ihnen gelingt aus diesem Hinterher-Lauf-Modus auszusteigen. Die Beziehung zu ihren Mitarbeitern wird viel angenehmer, weil sie nun auf Respekt und Augenhöhe basiert, und dennoch kommen sie gemeinsam besser voran.
Um aus diesem Hinterher-Lauf-Modus auszusteigen, ist es sinnvoll zu verstehen: wie kommt es eigentlich dazu, dass man mit dem Hinterher-Laufen anfängt?
Was ist da los? Und wo ist hier die Verantwortung?
Erfahrene Führungskräfte können ihre Teammitglieder gut einschätzen: wer arbeitet woran, mit welcher Intensität und Produktivität. Diese intuitive Einschätzung ist erstaunlich treffsicher, gilt aber nur, solange sich der Kontext nicht wesentlich ändert.
Fehlende Signale führen zu Unsicherheit und Zweifel an den eigenen Fähigkeiten
Seit viele Unternehmen auf Homeoffice umgestellt haben, ist eine andere Situation entstanden: als Führungskraft sehe ich meine Mitarbeiter nicht mehr, wenn ich meinen Blick hebe, oder durchs Büro gehe. Viele Signale, die mir wertvolle Hinweise darüber gegeben haben, wie meine Mitarbeiter mit ihrer Arbeit voran kommen, stehen mir bei Remote Work nicht mehr zur Verfügung.
Wenn ein Großteil der Hinweise fehlen, die man bisher zur Einschätzung der Lage verwendet hat, ist es eigentlich verständlich, dass Zweifel aufkommen.

Selbstzweifel verringert das Vertrauen in Ihre Mitarbeiter
In einer Studie wurden 1.200 Personen aus 24 Ländern zu ihren Remote Work Erfahrungen befragt:
- 40% der Führungskräfte sagten, sie haben wenig Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, Mitarbeiter aus der Distanz zu führen
- 38% der Führungskräfte sind der Ansicht, dass Remote-Mitarbeiter weniger gut arbeiten
Dabei zeigten sich erstaunliche Unterschiede in der Einschätzung wie gut Führung auf Distanz gelingen kann:
- 25% der Führungskräfte unter dreißig Jahren hatten nicht das Gefühl, ein Team von Remote-Mitarbeitern effektiv leiten zu können
- Führungskräfte über dreißig Jahre waren zuversichtlicher mit ihrer Einschätzung, hier hatten nur 12% Bedenken, ihre Mitarbeiter aus der Distanz gut führen zu können

Gerade bei erfahrenen Mitarbeitern ist es günstig, die Verantwortung zu teilen:
- als Führungskraft verantworten Sie das Ziel (das Was)
- ihre Teammitglieder verantworten die Art und Weise, wie sie das Ziel erreichen oder die Aufgabe erledigen (das Wie)
Alle Verantwortung an sich zu ziehen, ist eine verständliche Reaktion, hat jedoch ihren Preis
Die neuen Herausforderungen bei Remote Work bewirken bei vielen Führungskräften Zweifel, ob sie aus der Distanz genauso gut führen können wie mit physisch vor Ort. Diese eigenen Zweifel färben ohne es zu wollen auch auf die Mitarbeiter ab.
Eine an sich selbst zweifelnde Führungskraft begegnet ihren Mitarbeitern eher mit Misstrauen. Aus der Perspektive des Misstrauens gesehen macht es dann auch Sinn, die gesamte Verantwortung an sich zu ziehen. Schließlich kann man sich ja nicht sicher sein, dass die andere Person mit dem gleichen Pflichtbewusstsein unterwegs ist, wie man selbst. Die ungewollte Auswirkung davon ist Mikromanagement. Dabei kümmert man sich immer mehr um Details, und mischt sich mit den besten Absichten in Art der Aufgabenerledigung ein.
Mitarbeiter empfinden dieses übermäßige Interesse am Wie Ihrer Arbeit selten als Bereicherung, sondern vielmehr als Kontrolle oder Überwachung. Sie empfinden sich zusehends als Erfüllungsgehilfe ohne Gestaltungsmöglichkeit. Das ist auf Dauer demotivierend, beeinträchtigt die psychische Gesundheit, und lähmt die Produktivität im Team.
Was können Sie also tun, wenn Sie den Eindruck haben, durch die Umstellung auf Homeoffice eher ins Mikromanagement gedriftet zu sein, und Ihren Mitarbeitern mehr Verantwortung abgenommen haben, als Ihnen sinnvoll erscheint?
3 Tipps wie Sie die Selbstverantwortung in Ihrem Team fördern können
Tipp 1: Erlauben Sie sich als Führungskraft, nicht immer perfekt sein zu müssen
In vielen Studien ist belegt, dass eine vertrauensvolle Haltung die Zusammenarbeit im Team verbessert, und auch zu besseren Arbeitsergebnissen führt. Dieses Wissen kann aber auch dazu verleiten, sich als Führungskraft einem hohen Erwartungsdruck auszusetzen, nach dem Motto: „Wenn ich eine gute Führungskraft wäre, dann müsste ich stets gelassen, verständnisvoll und vertrauensvoll sein. Das ist allerdings ein übermenschlicher Anspruch an sich selbst, an dem man eigentlich nur scheitern kann.

Gerade in herausfordernden Zeiten ist es günstig, immer wieder Abstand zu gewinnen: Schauen Sie sich selbst über die Schulter, und beobachten Sie, mit welchem Blick Sie gerade in die Welt schauen.
- Mit wie viel Zuversicht oder Zweifel in ihre eigenen Fähigkeiten blicken Sie gerade auf sich selbst?
- Betrachten Sie Ihre Mitarbeiter gerade mit Vertrauen oder eher mit Misstrauen?
Aus dieser neutralen Beobachterposition fällt es Ihnen dann auch auch leichter zu prüfen: ist der derzeitige Modus gerade angemessen, oder wäre es besser den Modus zu wechseln?
Tipp 2: Formulieren Sie klare Erwartungen und Ziele, und stimmen Sie diese mit Ihren Mitarbeitern ab
Ein Grund, warum Mitarbeiter die Arbeit im Homeoffice oft als produktiver und erfüllender einschätzen, ist die höhere Autonomie. Sie haben in der Regel mehr Freiheiten, wann und wie sie ihre Arbeit erledigen. Damit diese Freiheit nicht zu Chaos führt, sind klare gegenseitige Erwartungen und Ziele wichtig, also zum Beispiel:
- Grundsätzliche Erwartungen an Erreichbarkeit
- Ein Überblick für alle über Beteiligten über die kurz- und mittelfristige Ziele sowie den Aufgabenstatus
- Regelungen für Verbindlichkeit
Tipp 3: Regelmäßige Check-Ins statt Check-Ups
Nachdem Sie die Erwartungen mit ihren Mitarbeitern geklärt haben, können Sie sich nun der Unterstützung widmen: Weil Sie Ihre Mitarbeiter fragen, wofür Sie Unterstützung benötigen, und wo sie alleine gut zurecht kommen, können Sie gezielter und sparsamer unterstützen. So sparen Sie Kraft, die Sie für andere Vorhaben nutzen können.
Check-Up | Check-In | |
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So hört sich das typischerweise an: | „Hast du diese oder jene Aufgabe schon erledigt?“ „Warum bist du noch nicht fertig? Das sollte längst fertig sein.“ | „Was brauchst du von mir, damit du die Aufgabe erledigen kannst?“ „Gibt es Hindernisse, die dir im Weg stehen, bei der Erledigung deiner Aufgabe?“ |
Typische Aktivitäten der Führungskraft: | Ständige Überprüfung, ob eine Aufgabe schon begonnen, in Arbeit oder erledigt wurde. Ständige Überprüfung wie die Mitarbeiter ihre Aufgaben erledigen, auch wenn sie über viel Erfahrung und Kompetenz verfügen. | Mitarbeiter mit jenen Ressourcen und der Hilfe versorgen, die sie wirklich benötigen. Informationen darüber teilen, was Sie als Führungskraft gerade tun, insbesondere wenn es für die Arbeit Ihres Teams relevant sein könnte. |
Führungskräfte empfinden das oft als… | ….Mitarbeitern hinterherzulaufen. | Mitarbeiter dort zu unterstützen, wo sie Hilfe benötigen. |
Mitarbeiter erleben das oft als… | Überwachung und Kontrolle. | Unterstützung, jemand ist für Sie da, wenn Sie Hilfe benötigen. |
Wirkung | Erstickt die Initiative und Verantwortungs-bereitschaft der Mitarbeiter | Unterstützt die Verantwortungs-fähigkeit der Mitarbeiter, fördert die Zusammenarbeit auch unter schwierigen Bedingungen |
Und die Hausaufgaben meines Sohnes?
An den guten Tagen frage ich ihn, ob und wie ich ihm behilflich sein kann. Möglicherweise unterstütze ich ihn dann dabei, ein größeres Vorhaben in kleinere Teile zu zerlegen. Wenn er merkt, dass er bestimmte Aufgaben vor sich herschiebt, biete ich an, gemeinsam nach Strategien zu suchen, damit er leichter ins Tun kommt. Noch nie hat er mich aktiv darum gebeten, ihn daran zu erinnern, seine Hausaufgaben doch endlich zu erledigen.
Das ist interessant, denn mit etwas Abstand betrachtet, sind solche Abfragen wie „Hast du dieses oder jenes schon erledigt?“ nicht besonders anspruchsvoll: Jeder elektronische Kalender hat eine Erinnerungsfunktion, die das mit hundertprozentiger Verlässlichkeit erledigt. Qualitativ höherwertige Unterstützungsangebote hingegen sind nicht so leicht automatisierbar, denn sie entstehen in Beziehung, und setzen einen Dialog voraus. Aus dieser dialogischen Haltung heraus stehe ich bei Bedarf für Unterstützung zur Verfügung, aber ich ermögliche meinem Sohn selber die Verantwortung zu übernehmen, seine Hausaufgaben zu erledigen.
Na, und manchmal spielen wir – fast schon nostalgisch – eine Runde Nachlaufen: „Hast du deine Russisch-Hausaufgabe schon erledigt.“ „Nein.“ „Das solltest du aber.“ „Ich weiß.“….
Foto: mapodile, iStock