Netzwerkgesellschaft: Werden wir oberflächlicher?

Studien zufolge lesen wir nur etwa 20 Prozent der Wörter eines Online-Textes. Werden wir immer oberflächlicher und ist das ein Problem? Im folgenden Artikel möchte ich zeigen, dass wir in der Netzwerkgesellschaft eine andere Art der Aufmerksamkeit benötigen und Beispiele dazu bringen.

Die Netzwerkgesellschaft und wie es dazu gekommen ist

Der Soziologe und Medientheoretiker Manuel Castells beschreibt den Übergang vom Industriezeitalter zum Informationszeitalter so: Die elektronischen Kommunikationsmedien führen zu einer radikalen Dezentralisierung von Human- und Sachkapital. Dadurch kommt es bei den Organisationsstrukturen zu einem Wechsel von vertikalen Bürokratien zu horizontalen Kooperationsmustern – von Hierarchien zu Netzwerken.  Die Wirtschaftswissenschaftler Carl Shapiro und Hal Varian beschreiben diesen Wandel in ähnlicher Weise:

“There is a central difference between the old and new economies: the old industrial economy was driven by economies of scale; the new information economy is driven by economics of networks.”

Diese Netzwerkgesellschaft wird von dem Soziologen Dirk Baecker als eine unruhige Gesellschaft beschrieben: In einem Netzwerk müssen wir uns ständig versichern, dass Akteure mit denen wir bisher zu tun hatten, es auch weiterhin mit uns zu tun haben wollen.

Um in der Netzwerkgesellschaft weiterhin handlungsfähig zu bleiben, brauchen wir eine erweiterte Aufmerksamkeit

Dirk Baecker behauptet nun, dass für das Überleben in der Netzwerkgesellschaft neben der fokussierten Aufmerksamkeit eine weitere Art der Aufmerksamkeit dazukommen muss:

“Müssen wir also nicht eher eine Form der Konzentration entwickeln, die (wie uns auch die Buddhisten lehren) eher etwas mit einer “schwebenden Konzentration” zu tun hat, wo ich mich also beim Lesen eines Textes oder Buches gleichzeitig immer wieder frage, was hat das, was ich hier lese mit der restlichen Welt, mit anderen möglichen Perspektiven zu tun?”

Der Mediziner Jon Kabat-Zinn beschreibt den Unterschied zwischen Konzentration und Achtsamkeit (“schwebende Konzentration”) sehr pointiert:

KonzentrationAchtsamkeit
Fokus auf bestimmten Bereich, ThemaFokus ist weit gestellt
gesamte Aufmerksamkeit steht für bestimmten Bereich, Thema zur Verfügungabsichtsvoll, bezieht sich auf den gegenwärtigen Moment, nicht wertend
Rückzug aus der WeltNeugier, Offenheit

In relativ stabilen Umgebungen ist die fokussierte Konzentration die wichtigste Art der Aufmerksamkeit. Wenn sich die Umgebung hingegen ständig ändert, dann brauchen wir Achtsamkeit, um jene Lösungen zu finden, die unter geänderten Umweltbedingungen relevant sind. Die Konzentration bleibt jedoch weiterhin wichtig, um nicht im Strudel der Veränderungen ziellos umher zu treiben.

Präsenz im Hier und Jetzt: eine zukunftsträchtige Fähigkeit

Das Apollo Research Institute hat in einer Studie zehn wesentliche Fähigkeiten für den Arbeitsplatz 2020 identifiziert. Eine davon ist das neuartige und adaptive Denken: die Fähigkeit Lösungen hervor zu bringen, für deren Entwicklung wir noch keine Prozeduren entwickelt haben. Neuartiges und adaptives Denken, so die Autoren der Studie, beruht auf der Fähigkeit, auf die einzigartigen und unerwarteten Eigenschaften des Moments eingehen zu können. Daher sind Achtsamkeit und die Präsenz im Hier und Jetzt wichtige Voraussetzungen für kreatives Denken, eine Fähigkeit die in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen wird.

Wo zeigt sich diese Art der Aufmerksamkeit jetzt bereits konkret?
  • Nutzungsverhalten Social Media: Erfahrene Nutzer sind in der Lage große Informationsmengen zu überfliegen (“schwebende” Aufmerksamkeit) und behalten gleichzeitig den Fokus auf ihrem Fachgebiet (Konzentration)
  • Moderationsmethode Dynamic Facilitation: Der Fokus bleibt während des gesamten Prozesses auf dem Anliegen (Konzentration). Die Teilnehmer dürfen ihren momentanen Impulsen folgen und können zu jeder Zeit Bedenken einstreuen, Lösungsideen nennen oder die Problemformulierung schärfen (“schwebende” Aufmerksamkeit).

In welchen Situationen sehen Sie diese “schwebende” Konzentration oder Achtsamkeit verwirklicht? Welche Situationen in Ihrer Arbeitsumgebung würden von mehr Achtsamkeit profitieren?

Weiterführende Literatur:

Bildquelle: iStock/Wenjie Dong

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